Marzahn calling / Desperately seeking Daisy.

Ein Himmelfahrtskommando, drei Tage später erst seine Erlebnisse niederschreiben zu wollen, die man besser sofort und unter Einfluss festgehalten hätte.

Als ich am Donnerstag von Marzahn kommend in die Dämmerung hinein gen Westen fuhr, waren mir noch die dollsten Phrasen durch den Kopf geschossen und der Nobelpreis für Literatur klopfte an jeder zweiten Ampel verzückt an die Windschutzscheibe. Zu Hause dann, den sprichwörtlichen Bleistift schon gespitzt, musste ich feststellen, dass ich mein Laptop nachts im Club liegen lassen hatte und nun nichts veröffentlichen konnte. Deshalb die Story also erst heute.

Nun, liebe Kinder, gebt fein acht...*: Nachdem sich am Mittwochabend die spontane "Stadt, Land, Scheidungsgrund"-Rotte um DJ Heidi und die ledige Katrin in alle Himmelsrichtungen zerstreut hatte und nur noch wenige zotige Wortfetzen im Raum hingen, liebäugelte ich bereits mit einem frühen Feierabend - und hatte die Rechnung mal wieder ohne den Wirt gemacht. Ein paar Köche kamen herein. Und junge Menschen, die ich nicht kannte. Ein kleines Pummelchen um die zwanzig saß recht einsam am Tresen und fing relativ bald an zu weinen. Die Musik sei so schön und alles so traurig. Kurz und gut: Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sie überhaupt war und wohin sie sollte - nachts um halb fünf, und sie kam aus Marzahn. Es war scheiß kalt da draußen und es schneite ein bisschen. Ich weiß genau, was jeder halbwegs vernünftige Mensch jetzt denken wird. Aber so war es nicht.

Einzig und allein mein soziales Gewissen, das die Worte sprach: "Ich lass dich jetzt hier nicht draußen in der Kälte umher irren - ich fahr dich kurz rum." Ich hatte ja schon immer mal nachts nach Marzahn gewollt. Ein Plattenbau hinter der Jet-Tankstelle am Blumberger Damm. Eau de Katzen-Toilette schlug mir beißend entgegen, als sie die Wohnungstür im Erdgeschoss aufschloss. Sie hieß Franzi und sagte, sie hätte noch einen Tiefkühl-Hummer von Aldi am Start - der allerdings schon angetaut war und nicht unbedingt vertrauenerweckend aussah. Während er im Topf vor sich hin kröchelte, saßen wir in Neunziger-Jahre-Couchgarnituren, tranken Sekt und betrachteten die originale Schrankwand aus frühen DDR-Tagen, die ich sofort in mein Herz schloss. Sie meinte, das sei hier die Wohnung ihres verstorbenen Vaters und sie würde den ganzen Mist auf den Müll werfen. Ich sagte, das könne sie auf keinen Fall tun: "Bevor du das weg wirfst, kauf ich's dir ab!"

Wir knackten den Hummer mit Dosenöffnern und stellten fest, dass er ganz grauenvoll schmeckte. Esmeralda, die Perserkatze, war da anderer Meinung und sprang mir mit glühenden Augen halb in den Teller. Sie machte mir Angst. Ich legte mich ins Gästezimmer des verstorbenen Vaters und wurde am Nachmittag gegen drei erst wieder wach. Über den gesamten Teppichboden war Katzenstreu verteilt; das klebte beim Gehen unter den Füßen.

Bei Tage betrachtet schien die Zweiraumwohnung noch ernüchternder als im Morgengrauen. In der Küche türmten sich Sternburg-Pils-Kisten und in jeder Ecke stand ein Katzenbaum. Und mittendrin ein funkelnagelneuer Telefunken-Fernseher mit großem Hundert-Hertz Flachbildschirm. Ich schrieb Franzi einen Abschiedsgruß und bedankte mich für den Hummer. Sie schlief noch beseelt im Bett ihres verstorbenen Vaters. Dann zog ich die Tür hinter mir ins Schloss.

Heute Abend im Club: das Ich Bin Pop DJ Team. Draußen schleicht der Schneesturm Daisy ums Haus. Unwetter fällt allerdings aus.


Foto: Abbildung ähnlich © KvK, 2006

*West-Sandmännchen (Ostmann ist besser)

18 Kommentare:

Snow Patrol

Langsam kommt Daisy auch hier in Berlin in Fahrt. Aber wo bleibt der Sturm?

Sergante G.

Ich mag keine Katzen, Hummer aber sehrwohl...vielleicht nicht unbedingt von Aldi!
Bist schon ´nen Guter, Kai!

IM Sound's Hausmeister

Die Geschichte ist irgendwie rührend. Und schön. Aber wie kam sie nach Kreuzberg (das Pummelchen, nicht die Geschichte? Und vom Hummer wird mir beim Lesen schon schlecht.
(So fangen Filme mit Maria Schrader an. Obwohl, man kann ja über sie sagen, was man will (räusper), aber 'n Pummelchen ist sie (noch) nicht)
Kai, Du bist der Cary Grant unter den Stadtschreibern.

Kai

Vielen Dank. Geht runter wie Öl. Hummer hatte ich übrigens vorher noch nie gegessen. Von angetautem Tiefkühlexemplaren vom Discounter jedenfalls muss ich abraten. Wo das kleine Pummelchen her kam? Keine Ahnung. Saß plötzlich im Club. Die wusste nicht einmal, dass sie in Kreuzberg war.

RM

Somnambulismus

Daisy

Meckert endlich mal keiner übers Wetter. Erstaunlich. Aber schön.

Anonym

der Protagonist des Dramas "Hummer im Plattenbau" schildert eine Episode aus dem Leben eines orientierungslos gewordenen Mannes, der sich von zufälligen Begegnungen treiben lässt, vielleicht in der Hoffnung, dass sich durch diese neue Wege aufzeigen könnten, die für ihn wieder interessant zu verfolgen wären, in seinem doch zur Zeit langweiligen, ziellosen Leben Tag für Tag...

Scheidungsgrund

Den aldinativen Nobelpreis kann dir keiner mehr nehmen.
Und das Foto? Sieht aus wie Rückbau der Plattenbauten in Dranßke auf Rügen.

orientierungslos gewordener Mann Kai

Brandenburg an der Havel, Rückbau, WM-Sommer 2006. "Hummer im Plattenbau" soll Pflichtlektüre werden. Sekundarstufe 2. "Humor im Plattenbau" ist schon als Fortsetzung vorgesehen.

Anonym

Eine Persiflage...
Das läßt ja dann doch noch hoffen!!!
(und der Titel dazu ist ja genial)
A l l e s kann besser werden...

Humorloser im Plattenbau

Nichts wird gut.

Anonym

abwarten...
bis dahin gibt`s vielleicht Spaß im Kiez...!?

Kai

Sergeant G., ich hab vorhin von Dir geträumt. Du kamst bester Laune in den Club. Mit weißem Hemd und Melone auf dem Kopf. Der Tresen war rot: ein Traum in Farbe also. Wir tauschten einen wissenden Blick - bestimmt wegen des Hummers...?!

W

James?

Cousin von James

Wolf, Deine Schuld möchte ich auf meiner Haut nicht mit mir rum tragen müssen.

Anonym

vielleicht wußte er nicht, was er tat...?
und vielleicht kann ihm ja irgendjemand vergeben...?

Anonym

das Leben ist hart!!!

Sergeant G.

Weißes Hemd und Melone trage ich ich immer, wenn ich vom Hummer-Essen komme...alles andere scheint mir einfach nicht angemessen!

 
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