Harz IV / Satz heiße Ohren.

Hat man die finsteren Ortschaften im nördlichen Salzgitter, wie Sauingen oder Hallendorf, endlich hinter sich gelassen, wird es wieder erträglich und das vorläufige Harzvorland deutet sich vorsichtig an. In Salzgitter-Beinum zum Beispiel irgendwo wohnt Onkel Günther, ein Cousin meiner Mutter. Kurz vor Weihnachten gerade hatten sie auf den 60sten Jahrestag seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft angestoßen. Sechs Jahre Sibirien. Asbestförderung oder so. Nach meiner Rechnung war er mit nicht einmal siebzehn einberufen und nach Stalingrad geschickt worden. Als ich Kind war, saß ich eines Abends alleine im Wohnzimmer und im Fernsehen lief "Hunde, wollt ihr ewig leben". Nebenan, in der Großen- und in der Eckstube, machten die Erwachsenen Hoch die Tassen und reichlich Radau. Plötzlich stand Onkel Günther hinter mir am Sessel und meinte sichtlich erregt, so einen Scheiß könne ich mir doch nicht ansehen - das sei doch nichts für Kinder. Peinlich berührt bekam ich ganz heiße Ohren. Heute kann ich mir ungefähr denken, was er gemeint hat. Weiter ging die Fahrt und irgendwie landete ich in Hornburg. Ja. Im Krieg unzerstört, könnte man da ganz formidable Historienfilme drehen. Wohnen möchte ich da nicht. Auf dem Rückweg, kurz vor Wolfenbüttel wiederum, dachte ich, dann kann ich ja mal nach Eilum fahren. Eilum liegt unweit des Atommüllendlagers Asse, eine nicht ganz geheuere Gegend, und früher haben wir uns da immer bei Kunstlehrer Gerd Schneider mit unserer Film-AG getroffen. Gerd fuhr einen alten Saab und war der Inbegriff eines links-alternativen Gymnasiallehrers der frühen Achtziger Jahre. Heute führt Christoph Braun vom "Spex" seinen "Hacken"-Blog dort auf dem Lande. Aber egal: Es gab keinen Wegweiser nach Eilum - und nirgendwo einen Menschen, den ich mal hätte fragen können. So kam ich nach Kissenbrück. Die Großeltern meines ältesten Freundes hatten dort gewohnt, bis der Opa die Oma ohne ersichtlichen Grund von hinten erschoss. Mein Kumpel hat nie wieder ein Wort mit ihm gesprochen. Zwei Kilometer vor dem Ende meiner Rundfahrt, ich konnte Kaffee und Kuchen beinahe schon riechen, ging gerade die Sonne unter. Donnerstag ist Silvester.

Foto: Bei Alvesse ging gerade die Sonne unter © KvK, 2009

6 Kommentare:

Kreuzberger Angsthase

Kai, diese Heimatgeschichten machen mich ganz fertig. E.A. Poe trifft auf transsylvanische Märchen mit einem Schuss (sorry, Oma vom Freund) deutsch-heimeliger Dunkelhistorie. Ich fahr' da jetzt gleich mal hin. Eigenes Bild machen. Wenn ich nicht wiederkomme, bin ich eingemauert. Von dem Kind eines Heimkehrers. In einem Ziegelsteinhaus in der Altstadt von Hornburg. Neben mir ein Atommüllfass. Ich höre noch ein Windrad surren. Dann ein Schuss. Vendetta: der Enkel der erschossenen Oma hat den Neffen ... nee, ich bleib' hier. Weitere Geschichten lesend. Schreib.

Angsthase

Moment mal! Hornburg liegt ja fast bei Leipzig. Wo kurvst Du denn rum? Fern der Heimat. Irgendwo zwischen Luther und Barbarossa. Na, dass einem da schräge Gedanken kommen ... ich mach jetzt mal einen Routenplan Deiner Tour anhand der Texte. Danach erstelle ich ein Psychogramm und lese es Silvester im Club vor. Du bist ein guter Reiseschriftsteller, Bruce Chatwin der Ohlauer.

Kai

Nee, das Hornburg, das ich meine, liegt im nördlichen Vorharz. Alles Wolfenbüttler Kennzeichen - und (mit mir) drei Berliner.

Anonym

da klebt ja der kuhdung noch unter den hacken, wenn der herr großstädter (haha, berlin!) sich aufs land wagt. tragischer sind nur die schwaben.

Kai

Morgen dann wieder Kudamm statt Kuhdung.

Kai

Übrigens, Angsthase: es gibt keine Altstadt von Hornburg. Ganz Hornburg ist eine einzige Altstadt - von der Sporthalle vielleicht mal abgesehen.

 
Clicky Web Analytics